Das Spiel mit dem Raum und dem Zuschauer / Irina Osjornaja

Portrait des deutsch-russischen Bühnenbildners Harry Hummel

Erinnern Sie sich an die Geschichte von dem Bildhauer Pygmalion, der Aphrodite bat, Galathee, seine schönste Mädchenplastik, lebendig zu machen? Der künstlerischen Version von Bernhard Shaws zufolge erwies sich die schöne Galathee als äußerst begabte Person, die übertraf alle Erwartungen ihres schönen Schöpfers und bereitete ihm manche Überraschung. Der Lebensweg des Bühnenbildners Harry Hummel ist im gewissen Sinne eine moderne Fortsetzung dieses griechischen Mythos. Seine Kindheit teilte sich in zwei verschiedene Welten. Die eine war die Kunst, wo er im Atelier seines Vaters inmitten von Plastiken, Phantasiegebilde und interessanten Leuten und der Selbstverständlichkeit der alltäglichen Arbeit heranwuchs. Das rief in ihm den Wunsch hervor, ebenfalls mit den Händen zu modellieren. Die andere Welt befand sich außerhalb des Ateliers. Das war das Leben eines Jungen in Karaganda der sechziger Jahre.

Aber es war keine freundliche Welt, sie bestand aus ewiger Feindseligkeit und blutigen Schlägereien. "Das ist alles", erzählte mit Harry einmal, "an mehr kann ich mich aus diesem Leben nicht erinnern. Nein, noch etwas, Man foppte mich mit dem Spitznamen `Nemezí (Deutscher), darum musste ich dauernd meine Ehre und Würde verteidigen. Wie ich in dieser Situation überlebt habe und das geworden bin, was ich heute bin, ist einfach unvorstellbar." Seine Erfüllung fand er im Atelier, aber auch die Straße lehrte ihn viel, und nicht nur die Kunst des überlebens und das Vermögen, für sich selber einzustehen. Bei genauerem Hinschauen entdeckt man diese zwei Leben in seinen Arbeiten für die Bühne. In den von ihm geschaffenen Räumen stehen neben seiner Ästhetik (Atelier), neben der Strenge, dem baumeisterlichen können und den genauen Abmessungen (Professionalismus) sowie einem groflartigen Gefühl für das Maß (Geschmack) eine Rabaukenkindheit, bestehend aus Dachböden, Kellern, aus Taubenschlägen und Schlupflöchern, in denen man sich jeder Zeit verstecken kann, aus denen man aber auch herausspringen und damit den zuschauer erschrecken, verwundern und verblüffen kann.

Die ersten Plastilinmännchen ließen den Vater in ihm den künftigen Bildhauer erblicken. Er freute sich sehr darüber, dass der Sohn sein Werk vorsetzen würde. Als Hummel junior jedoch gegen den väterlichen Willen und gegen dessen Vision, ihn auf den künstlerischen Weg zu führen, sich an der Schauspielschule des Künstlertheaters in Moskau immatrikulieren ließ, gab Hummel senior seinen Unmut kund: "Du bist doch der geborene Bildhauer. Du wirst schon sehen, dass du zur Skulptur zurückkehrst." An der Schauspielschule studierte Harry bei Oleg Schejnzis, dem Chefbühnenbildner des Lekom-Theaters. Es heißt, er war sein bester Schüler. Harry erinnert sich immer gerne an die Stunden bei Schejnzis, der ihm den Kanon der Szenographie beigebracht und seine Geheimnisse, Neigungen und sein Können freigebig mit ihm geteilt hat. Danach inszenierte er an mehreren Theatern innerhalb und außerhalb Moskaus. 1989 kam es in seinem Leben zu einer jähen Wende. Der Chefregisseur des Moskauer Theaters Ermitage Michail Lewitin bot ihm den Posten des Chefbühnenbildners an, und Harry war einverstanden.
Sie kannten einander nur vom Hörensagen. Hummel hatte die Aufführung des Ermitage-Theaters nicht gesehen und Lewitin nicht die Bühnenausstattung Hummels. Aber einer wie der andere besitzen eine starke Intuition und fühlten sofort, dass ihre Begegnung kein Zufall war. Alle sagten dem Chefregisseur, dass Harry viel zu jung für dieses solide Engagement sei. Aber Lewitin glaubte an seine Intuition. Lewitin hatte schon mit viele hervorragenden Künstlern seines Lande gearbeitet. Seine Inszenierungen wurden bereits ausgestattet von David Borowski, Tatjana Selwinskaja, Boris Messerer, Mart Kitajew, Andris Freiberg u.a. in seinem Buch über das Theater "Eine fremde Vorstellung" bezeichnet Lewitin den Bühnenbildner als den einzigen Coautor des Regisseurs. Gleich in der ersten gemeinsamen Arbeit konnten sich Regisseur und Bühnenbildner davon überzeugen, dass ihre Intuition richtig war. Es ist einfach verblüffend, wie groß die übereinstimmung ihres Verständnisses der Ästhetik und der Aufgaben des Theaters ist. Die Aufführungen des Ermitage-Theaters, denen stets gute literarische Vorlagen zugrunde liegen, haben stets fast schockierende Formen. In allen gibt es den unmittelbaren Kontakt zu den Zuschauern, das gemeinsame Spiel mir ihnen - eine beliebte Methode, die Basis der Lewitinischen Regie, aber auch dessen, was stets das Wesen von Hummels Ausstattung gebildet hatte. Ihre erste gemeinsame Inszenierung "Ein Abend im Irrenhaus" nach den Werken der Oberiuten-Schriftsteller (avantgardistische Richtung in der Literatur der 20 er und 30er Jahre - die Red.) Alexander Sabolozki und Nikolai Olejnikow. Hummel baute das Bühnenbild im kleinen Saal des Ermitage-Theaters auf und bezog genau 80 Zuschauerplätze ein. die Stühle mit den Überzügen, wie sie gewöhnlich dastehen, wenn keine Zuschauer im Saal sind, aufgestellt in mehreren Reihen mit schmalen Durchgängen, belegten fast die ganze Fläche des kleinen Zimmers. Die Atmosphäre, das Halbdunkel und diese hellen Überzüge gaben den Zuschauern, die jeder einzeln mit verschwörerischer Miene in den Saal gebeten wurden, zu verstehen, dass sie sich hier nicht im Theater, sondern ganz woanders befänden. Die Handlung selbst begann in einer Ecker der kleinen niedrigen Bühne, der Wohnstatt eines Dichters. Vor dem Hintergrund eines zimmerhohen Fensters wurden ein Metallbett, ein kleiner Tisch, eine Wanduhr, ein Puschkin-Porträt, eine Schmetterlingssammlung, viele viele Kerzen in altertümlichen Haltern und dazu ein ganzer Wust notweniger und unnütziger Dinge, das allgemeine Bild des Hauses aufgebaut. Dann gewann die Handlung Raum und drang auch in den Zuschauersaal vor. Durch die einzige Tür brauste ein Rettungswagen der Ersten Hilfe in Gestalt einer Kutsche heran. In ihr saßen die drei Freunde des Dichters, beschworen durch seine Erinnerungen. Die Schauspieler stiegen aus der Kutsche und agierten fast bis an den Schluss der Aufführung unter den Zuschauern, sie umkreisten sie von allen Seiten, sie drängten sich durch die engen Gänge, sie warfen sich über ihre Köpfe Bälle zu und taten dabei so, als wären keine Zuschauer da, sie verkehrten nur untereinander. An den Saal wandte sich nur einer - der Bewohner der Irrenhauses, der sich fast die ganze Zeit über auf der Bühne befand. Die Handlung stürzte über dem Zuschauer auch von oben herein, wo auf drei Mauervorsprüngen durch die Erinnerungen beschworene Statuen der Frauen lebendig wurden, die der Dichter einst geliebt hatte. Schließlich stiegen auch sie über schmale Leitern in den Saal zu den Zuschauern und mengten sich in des gemeinsame Spiel. Hinter den Rücken der Zuschauer hatte der Bühnenbildner eine Harfe aufgestellt und den ganzen Raum des Saales mit derart vielen Linien und Schnittpunkten durchzogen, dass der Zuschauer beim besten Willen kein unbeteiligter Betrachter bleiben konnte. Man zwang ihn, sich in das Spiel einzumischen, daran teilzunehmen, die Handlung genau zu verfolgen und seinen Kopf ständig zu einer anderen Seite zu wenden. Am Schluss der Aufführung, vor dem Abgang aus dem Leben des Erinnerung, reißt der Dichter von dem linken Bühnenteil einen dunklen Fetzen Samt herunter, der zuvor als Vorhand gedient hatte, und gibt damit den Blick auf den "Fluss des Vergessens" frei, den Hummel von oben nach unten fließend, als transparente klingende Wand aus aneinander befestigten Plexiglasquadraten darstellt. Sie kontrastiert durch ihre Beschaffenheit schroff mit dem sehr "realitätsnahen" Bühnenboden, den Künstler aus Dielenbrettern eines alten Hauses zusammengezimmert hat, und mit der realistischen Darstellungsart des Zimmers. In der Szenographie gibt es Gesetze für die große und die kleine Bühne. Interessant ist, das Hummel in dieser Arbeit gewissermaßen drei Räume zusammenbebracht hat: Die große Bühne mit der kleinen, die er einmal teilt, ein anderes mal vereint, und dazu die kleine Zimmerecke, die Wohnstatt des Dichters. Staunenswert, dass sich Hummel in dieser Arbeit wieder an das väterliche Atelier erinnert.

Hummels Debüt im Ermitage-Theater war von großem Erfolg gekrönt. Die Inszenierung von "Ein Abend im Irrenhaus" wurde von der Kritik als beste Premiere der Saison 1989/90 in Moskau anerkannt. Das nächste Stück machten Lewitin und Hummel schon im großen Saal. Es war Jacques Offenbachs Operette "Pariser Leben". Lewitin wollte auf der Bühne und im Saal Paris mit seinen Straßen nachgebildet sehen. Aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie dieser Wunsch zu realisieren wäre. Bis Harry ihm eine Skizze zeigte - den Eiffelturm. Lewitin schrak zurück: "Auf keinen Fall! Das ist das banalste Attribut, das man sich denken kann. Es steht überall, wo nur die rede von der Hauptstadt Frankreichs ist. sobald man `Paris´ sagt, hat man sofort den Eiffelturm im Sinn", machten Lewitin seinem Ärger Luft. Aber dann schaute er genauer hin und sah,dass dieser gigantische Turm mit drei Füßen auf der Bühne stehen, mit dem vierten aber in den Saal schreiten und so unter seinem Bauch das Publikum im Parkett aufnehmen sollte. Er begriff, dass er sich geirrt und die Skizzen nicht genau betrachtet hatte. Und da sprach er die Formel aus: Theater ist Banales aus unverhofftem Blickwinkel. Die Ausstattung von "Pariser Leben" gelang großartig. Die riesige Metallkonstruktion des Unterteils des Turms reichte fast bis an die Decke, Dort riss sie ab, als hätte sie jemand mit einem riesigen Schwert abgehackt. Da oben, direkt unter dem Dach, tanzen zwei Paare "Pariser Tango", dessen Rhythmus sich hin und wieder in die Aufführung einmischten, über den Köpfen der Zuschauer schwebte und sie damit wie im Zirkus den Atem anhalten ließ. Durch die Reihen des Parketts legte Hummel schräg zum Hinterausgang aus dem Saal die Gleise einer Eisenbahnlinie. Auf ihr fuhr, von der Tür auf die Bühne, ein Eisenbahnabteil, in dem der schwedische Baron mit seiner Baronin sowohl nach Paris hinein wie auch wieder hinaus fuhr. W‰hrend der Auff¸hrung verwandelte sich das Abteil in einen schwimmenden Nachen, in einen Sessel oder in ein Bett. Die Eisenbahnlinie war gleichzeitig der Fuflweg, auf dem die handelnde Personen spazieren gingen, flüchteten oder zurückkamen. Auf der Bühne selbst fuhr ein zweirädriger Omnibus mit einem Orchester darauf, in dem alle handelten Personen Platz fanden. Und dann waren da noch - natürlich - Skulpturen. Schöne Reiterstandbilder, Pariser Straflenspringbrunnen. Auf dem Turm standen Skulpturen exotischer antiker Chimären. Somit war der Turm auch noch Symbol für ein weiteres Pariser Wahrzeichen, Notre Dame. Die Skulpturen hatte Harry selbst gemacht. Sie mussten das Körpergewischt der Schauspieler aushalten und demnach fest und stabil sein. Er fertigte sie aus dickem, aber biegsamem Metallmaschendraht an, die Form modellierte er mit den Händen. Darauf legte er eine vielfache Schichte aus Papiermache und bemalte sie mit brauner Farbe. Die Lobeshymnen der Rezensionen, in denen auch der Bühnenbildner gebührend gewürdigt wurde, füllten lange die Spalten der Zeitungen und Zeitschriften. Während einer der ersten Aufführungen traf ich Hummel senior, der eigens aus Karaganda nach Moskau gekommen war, um sich die Aufführung anzuschauen. Er war glücklich und stolz auf seinen Sohn. Auf meine Glückwünsche und meine Begeisterung für Harry Arbeit antwortete der dickköpfige "Pygmalion": "Ja, er ist ein guter Bühnenbildner geworden, aber sein Platz ist das Bildhaueratelier. Und er wird dorthin zurückkehren.

IRINA OSJORNAJA